VERNETZTES DENKEN

Kybernetik ist die Theorie von... Doch was ist mit der Praxis? Frederic Vesters jüngstes Buch macht deutlich, dass vernetztes Denken nicht nur zur Analyse komplexer Systeme taugt, sondern auch als Werkzeug zu ihrer Veränderung dienen kann.

Eine Analyse von Frank Thillen (Denkfabrik Nordstad) hier im Gespräch mit Prof. Frederic Vester am 2. März 2001 in München.


Gegen die Logik des Misslingens

"Beim Fußball würde es keinem Sportreporter einfallen, aus einer genauen Datenerfassung wie der Stellung der Spieler, ihrer Laufgeschwindigkeit und Schrittlänge, der Windgeschwindigkeit und der Rasenbeschaffenheit zu prognostizieren, dass viereinhalb Minuten später in der linken Torecke ein Tor fällt. In Politik und Unternehmensführung glaubt man jedoch nach wie vor weitgehend an die Gültigkeit solcher Voraussagen, sofern nur genügend Daten vorliegen".

Mit diesem Beispiel bringt Frederic Vester in seinem jüngsten Buch "Die Kunst vernetzt zu denken" auf den Punkt, worüber er seit immerhin 30 Jahren forscht und lehrt: Dass komplexe, ineinander verzahnte Systeme nicht mit dem linear-kausalen Maschinendenken verstehbar geschweige denn beherrschbar sind. Man darf nie vergessen, dass sich Eingriffe in komplexe Systeme über die gegebene Vernetzung sofort selbstständig machen. Wir sind immer zugleich Verursacher und Empfänger - mit Zeitverzögerung.

Im ersten Teil des Buches erläutert Vester, wozu eine unsystemische Vorgehensweise führt. Unsere Kardinalfehler im Umgang mit komplexen Systemen lassen sich besonders deutlich am Fall der Verkehrsplanung aufzeigen.

Netzwerk statt Einbahnstraße

Es beginnt mit einer falschen Zielbeschreibung. Statt die Erhöhung der Lebensfähigkeit des Systems anzustreben und die Zusammenhänge von Wohnen und Arbeiten, von Transportkosten und Volkswirtschaft zu erkunden, beschränkt man sich auf das Erfassen von Symptomen. Riesige Datenmengen wie Verkehrszählungen und Wachstumsprognosen werden zusammengestellt, ohne den Systemcharakter, die Regelkreise und die Grenzwerte zu erfassen. "Weiche Daten" wie die Akzeptanz für öffentliche Transportmittel oder das Interesse an neuen Mobilitätsformen bleiben unberücksichtigt. Dies obwohl sie für das Verhalten des Systems eine ebenso große Rolle spielen wie die "harten Zahlendaten".

Die Fixierung auf das Allheilmittel Straßenbau versperrt die Sicht auf Nebenwirkungen in anderen Bereichen. Doch die Beseitigung eines Problems an einer Stelle schafft meist zwei neue an einer anderen. Die milliardenschweren Investitionen in Straßen und Verkehrsleitsysteme bewirken letzlich nichts als eine leichte Anhebung des Grenzwertes, ab dem der Verkehrsinfarkt dann trotzdem fällig wird.

Vorbild Natur

Generell gilt, dass ein System langfristig nicht lebensfähig ist, wenn es auf ein ständiges Wachstum der Ressourcenströme aufgebaut ist, wo doch die Ressourcen, insgesamt gesehen, begrenzt sind. Dieses Grundprinzip der Biokybernetik wird heute in vielen Bereichen verletzt. Wie soll man gegensteuern? Diktatorische Maßnahmen helfen nicht weiter, sie scheitern an der Komplexität der Systeme. Man muss versuchen, das bestehende System nicht gegen die in ihm wirkenden Kräfte zu verändern, sondern mit ihnen. Man wendet das Jiu-Jitsu-Prinzip an statt der Boxer-Methode, formuliert es Vester.

Dabei ist der Steuermann selbst Teil des Systems und beschränkt sich auf die Impulsvorgabe zur Selbstregulation. "Wir brauchen dabei nur von der erfolgreichsten Firma der Welt zu lernen, von der Natur", so der Autor.

Von dieser Idee ausgehend hat Professor Frederic Vester das Sensitivitätsmodell entwickelt, eine moderne wissenschaftliche Methode mit der komplexe Zusammenhänge transparent und anwendbar gemacht werden können. In seinem Buch erklärt Vester, wie man zuerst alle für das System relevanten Variablen festlegt und die Wirkungen untereinander definiert. Dies geschieht in einer Projektgruppe zusammen mit den Betroffenen, um Denkfehler und Fehleinschätzungen frühzeitig zu erkennen und zu berücksichtigen. Wo liegen die Probleme? Was hängt damit zusammen? Welche Lösungen sind möglich? Wer ist dagegen und warum? Wodurch trägt sich das System? Solche Fragen führen dann allmählich zum einem Systembild. Damit das Modell überschaubar bleibt, werden aus den Variablen etwa 30 quantitative oder qualitative Schlüsselgrößen gemeinsam ausgewählt.

Diagnose und Therapie

Anschließend erfolgt die Bewertung des Systems: Welche Rollen haben die unterschiedlichen Größen im System? Wie funktionieren die Regelkreise(*)? Wo sind mögliche Steuerhebel? Wo gibt es Zeitverzögerungen? Die Vorgehensweise ist immer rekursiv, das heißt während der Analyse werden immer wieder Verbesserungen am Modell vorgenommen. Man erhält Hinweise, wie man das System "therapieren" kann, also was verändert werden muss, damit das System sich wie ein natürlicher Organismus selbst reguliert. Es geht darum, die "Sensitivität" des Systems einzuschätzen, das heißt, herauszufinden, ob es empfindlich ist oder eher robust. Ein wichtiger Nebeneffekt ist auch, dass die Definitionen abgeklärt werden und die Projektgruppe so zu einer gemeinsamen Sprache findet. Das im Buch vorgestellte, von der Studiengruppe um Professor Vester entwickelte Computerprogramm ermöglicht es, die einzelnen Schritte und die Systemzusammenhänge ansprechend zu visualisieren, Verbesserungen vorzunehmen und anschließend die Eignung von Lösungsstrategien in Simulationsrunden zu testen.

Werkzeug für Regionalplanung

"Die Kunst vernetzt zu denken" bietet eine Fülle von Beispielen und Werkstattberichten, wie vernetztes Denken überraschende Einsichten in verborgene Zusammenhänge liefert und so einen Vorsprung schafft gegenüber den bisherigen Vorgehensweisen. Die Anwendungen reichen vom Betriebsmanagment über Regionalentwicklung bis zur Verkehrsplanung.

Vesters Methodik könnte zum Beispiel einen wichtigen Ansatz bilden für die im Rahmen der Landesplanung anstehenden Diskussionen über nachhaltige Regionalentwicklung. Traditionell ist zu erwarten, dass hier die Argumente aufeinanderprallen, bis sich am Ende die wirtschaftspolitisch einflussreichste Lobby durchsetzt. Im Sensitivitätsmodell dagegen werden alle Argumente berücksichtigt, ob sie von Umweltschützern, Landwirten, Fachleuten oder Wirtschaftstreibenden angeführt werden. "Anstatt dass immer die gleichen Vorwände endlos wiederholt werden, wird hier das Systemmodell schrittweise verbessert", beschreibt Vester die Vorgehensweise. So wird allen Teilnehmern bewusst, wie die Wechselwirkungen der verschiedenen Optionen wie Umgehungsstraßen, Flächennutzungsplänen und gesellschaftlichen Entwicklungen sich auf die "Lebensfähigkeit" der Region auswirken. Es kann sich dabei erweisen, dass vermeintliche Steuerhebel wie die "wirtschaftliche Attraktivität einer Region" weniger direkt beeinflussbar sind als man glaubt. Dagegen wird die Rolle scheinbar zweitrangige Größen wie "Konsens in der Bevölkerung" oder "Zusammenarbeit der Ministerien" neu bewertet.

Der Erfolg einer Systemstudie nach Professor Vester hängt wesentlich vom Engagement der Mitarbeiter und Betroffenen ab. Als Dialog- und Mediationsinstrument funktioniert das Modell am besten in kleinen Systemen: Kommunen, Regionen, Unternehmen. Man muss sich Zeit lassen, um einen breiten Konsens zu erreichen. Dabei bietet eine Krise oft einen guten Startpunkt zum Umdenken. Wichtig ist, dass man Vertreter der verschiedensten Richtungen, Befürworter und Gegner eines Projekts zusammenbringt. Allerdings haben manche Leute kein Interesse daran, das Wirkungsgefüge objektiv aufzuklären. Dann besteht die Gefahr, dass die alten Machtverhältnisse am Schluss die Umsetzung verhindern.

In jeden Fall geht Vesters ganzheitlicher Ansatz weiter als die politisch gut verkäuflichen Reformhäppchen: ein bisschen Mülltrennung hier, ein paar Solarzellen dort. Für ihn bedeutet Nachhaltigkeit, dass ein System sich selbst (und nicht auf Kosten anderer) dauerhaft am Leben erhält. Da erstaunt es kaum, wenn Vester feststellt, dass in den obersten Etagen von Unternehmen und Politik noch immer eine reine Wachstumsideologie verfolgt wird, während auf unterer Ebene oft systemisch gedacht wird, Nachhaltigkeit und Rückwirkung von Entscheidungen kritisch betrachtet werden.

Biokybernetik und Regelkreise

Unter Kybernetik (vom griechischen kybernetes, der Steuermann) versteht man die Steuerung und selbsttätige Regelung ineinandergreifender Abläufe bei minimalem Energieaufwand. Die Biokybernetik orientiert sich hierfür an den altbewährten Organisationsstrukturen der Natur, deren Systeme sich automatisch in Gang halten und steuern.

Entscheidend für das System ist nicht nur, was mit wem verbunden ist sondern auch das Wie - Stärke und Richtung - der Verbindung. Ein Kreis von Wechselwirkungen ergibt eine Rückkopplung. Für die Entwicklung des Systems spielt das Gleichgewicht zwischen positiven und negativen Rückkopplungen eine wesentliche Rolle.

Zum Beispiel: Ein für Fußgänger ungefährlicher Schulweg bedingt, dass weniger Kinder mit dem Auto zur Schule gebracht werden. Je weniger Autoverkehr an der Schule herrscht, umso weniger gefährlich wird der Schulweg.

Diese positive Rückkopplung kann sich also abschaukeln, aber leider genausogut aufschaukeln. Dann ergibt sich der bekannte Teufelskreis: Mehr Autos bedeuten mehr Gefahr und führen deshalb zu noch mehr Autos.

Um den Teufelskreis aufzubrechen, könnte man Maßnahmen für die Sicherheit der Fußgänger (Aufklärung, Umgestaltung der Verkehrswege, Kontrolle) einführen. Auf viele Autos im Schulbereich reagiert man jetzt mit Aktionen zu Gunsten der Fußgänger. Infolgedessen gehen wieder mehr Kinder zu Fuß, weniger Autos fahren den Schulbering an, weniger Maßnahmen werden nötig. Diese negative Rückkopplung spielt die Rolle eines Regelkreises. Wenn die richtigen Schwellenwerte erreicht werden, regelt sich das System von selbst.

 

Frank Thillen Physiklehrer und Präsident der Denkfabrik Nordstad (Dossier WOXX 23.03.2001)